Im Nordosten von Bocholt befindet sich der Stadtwald. Die Stadt Bocholt wirbt für einen Besuch mit schönen Spazierwegen, die zum Flanieren, Spazieren, Laufen und Verweilen einladen. Doch das Gelände hat auch eine andere Geschichte.
Dort wo heute der Stadtwald ist, befand sich von 1939 bis 1944 das Mannschaftsstammlager (Stalag)VI F. Zunächst brachte man polnische und französische Kriegsgefangene dorthin. Die Gefangenen wurden zur Zwangsarbeit in den Stahlwerken und Rüstungsbetrieben des Ruhrgebiets eingesetzt, so z.B. bei Krupp in Essen.
1941 erweiterte man das Lager und im November 1941 trafen die ersten 800 sowjetischen Kriegsgefangenen im Stalag VI F ein. Ihnen sollten bald tausende weitere in deutsche Kriegsgefangenschaft geratene Rotarmisten folgen.
Galt das Stalag VI F nach Begehungen durch das Internationale Rote Kreuz noch 1943 als „relativ erträglich“, so traf dies nicht auf das Lager für sowjetische Kriegsgefangene zu, wo das Internationale Rote Kreuz ohnehin keinen Zutritt hatte. Die sowjetischen Kriegsgefangenen litten auch im Stalag VI F in Bocholt unter mangelnder Ernährung, fehlender Gesundheitsversorgung, katastrophalen Wohnverhältnissen und rassistischer Schikane. Der Friedhof, nur 1500 Meter entfernt an der Vardingholter Straße, legt davon Zeugnis ab.
Ein Obelisk trägt die Inschrift „ HIER RUHEN 1736 RUSSISCHE KRIEGSOPFER“.
Auf verwitterten Steinen stehen statt Namen Nummern.
Durch umfangreiche Recherchen ist es 2006 gelungen 1333 Namen von sowjetischen Kriegsgefangenen zu ermitteln.
2021 wurden Namenstelen mit den Namen der Verstorbenen errichtet.
Als die Dortmunder Nordstadt, die Westfalenhütte und die Zeche Kaiserstuhl am 5. Mai 1943 durch einen schweren Bombenangriff getroffen wurde, waren im Arbeitskommando 607R, Zeche Kaiserstuhl wohl mehr als 500 sowjetische Kriegsgefangenen. Sie waren dem Bombenhagel schutzlos ausgesetzt, da es ihnen nicht erlaubt war Schutzräume aufzusuchen. 194 von ihnen starben in dieser Nacht. Für die etwa 300 Überlebenden waren jedoch die Bombennächte bei weitem nicht die einzige Gefahr für ihr Leben. Zahlreiche Männer, die dem Bombenhagel entronnen waren, starben in den folgenden Monaten.
Hunger, schwerste Arbeit und fehlende Versorgung
Hauptgrund für die hohe Sterblichkeit sowjetischer Kriegsgefangener war die ungenügende Ernährung. Wehrmacht und Zechenleitungen wiesen sich gegenseitig die Verantwortung für den schlechten Ernährungszustand der Männer zu. Schon kurz nachdem sowjetische Kriegsgefangene auf den Zechen des Ruhrgebiets eingesetzt wurden, stellten die Lagerärzte bei den Verstorbenen häufig eine durch Unterernährung bedingte Herzschwäche als Todesursache fest. Doch auch das Risiko bei der Arbeit zu verunglücken war für sowjetische Kriegsgefangene mehr als doppelt so hoch wie für den Rest der Belegschaft. Die Arbeit unter Tage in staubiger und feuchter Umgebung und in ungeeigneter Kleidung verursachten eitrige Geschwüren und Furunkulose. Die Arbeitsbedingungen unter Tage ebenso wie die miserablen Wohnverhältnisse und die schlechte Beheizung der Unterkünfte führten zu Erkältungskrankheiten und in der Folge zu Lungenentzündungen, die oft tödlich endeten. Seit Sommer 1943 wurde zudem Lungentuberkulose zu einem ernsten gesundheitlichen Problem für die Gefangenen.
Mitte 1944 waren 10 % der Kriegsgefangenen im Wehrkreis VI revierkrank und weitere 8 % lazarettkrank. Kranke wurden aus den Arbeitskommandos in das nächste zuständige Kriegsgefangenenlazarett gebracht. Die Lazarette waren jedoch oft so überfüllt, dass die Gefangenen in den Arbeitskommandos blieben mussten. Schwerkranke brachte man in die Lazarette der Stalags VI A Hemer oder VI D Dortmund und ab 1944 in das Stalag VI C Bathorn im Emsland und in seine Zweiglager.
Neun Biographien
Das Los der neun Männer des Arbeitskommandos 607R zeigt beispielhaft wie schnell ihre Kräfte durch schwerste Arbeit, Hunger und fehlende Versorgung erschöpft waren. Die Neun waren mit tausenden anderen im Sommer und Herbst 1942 von den Frontlagern im Stalag VI K in der Senne angekommen. Dort wurden sie registriert und als bergbautauglich gemustert. Am 11. November brachte man sie in das Stalag VI A Hemer, das seit Herbst 1942 ausschließlich für die Zuweisung von Kriegsgefangenen für den Ruhrbergbau zuständig war. Mitte November 1942 kamen die Männer im Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl an.
Schneller Tod im Russenlazarett
Semjon Kalinin wurde am 12. Mai 1902 im Gebiet Orlow geboren. Er war verheiratet und arbeitete in der Landwirtschaft. Am 24. Juli 1942 geriet er Woroschilowgrad, dem heutigen Lugansk in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Bombenangriff am 5. Mai 1943 brachte man ihn am 7. Mai nach Bockum-Hövel in das Arbeitskommando 503R Zeche Radbod. Am 17. August 1943 kam er ins Krankenrevier. Man brachte ihn noch in das „Russenlazarett“, wo er am 18. August 1943 an Herzschwäche starb.
Egor Merkulow wurde im Jahr 1917 im Gebiet Woronesch geboren. Von Beruf war Arbeiter, er war verheiratet. Am 28.Oktober 1941 geriet er auf der Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft. Auch er überlebte den Bombenangriff am 5. Mai 1943, doch bereits am 15. Mai 1943 brachte man ihn in das Lazarett im Stalag VI A Hemer, wo er am 20. Mai 1943 an Lungenentzündung starb. Iwan Rjabinin wurde am 24. Januar 1921 im Gebiet Mogilow geboren. Er war in der Landwirtschaft tätig. Am 14. Juni 1942 geriet er bei Sewastopol in deutsche Kriegsgefangenschaft. Den Bombenangriff am 5. Mai 1943 überlebte er, am 8. Juli 1943 brachte man ihn ins Krankenrevier und dann in das Stalag VI C Bathorn, wo er am 16. Juli 1943 an Lungen-TBC starb.
Tod im Arbeitskommando 607R
Makar Buscha wurde im Mai 1914 im Gebiet Nikolajew geboren. Er war verheiratet und arbeitete in der Landwirtschaft. Im April 1942 geriet im Donbass in deutsche Kriegsgefangenschaft. Bei dem Bombenangriff am 5. Mai 1943 wurde er verletzt und war vom 9. Mai bis 25. Juni im Krankenrevier. Am 2. Juli 1943 kehrt er in das Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl zurück. Am 24. Juli erlitt er bei einem Arbeitsunfall eine Quetschung des Ellenbogens. Am 13. Mai 1944 starb er im Krankenrevier der Arbeitskommandos 607R an Lungenentzündung. Grigorij Prazko wurde am 19. Januar 1923 im Gebiet Nikolajew geboren. Er war von Beruf Arbeiter. Im Juni 1942 geriet er bei Kertsch in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Bombenangriff am 5. Mai 1943 blieb er im Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl . Vom 7. Juli bis 2. September 1943 war er im Krankenrevier. Dann kehrte er in das Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl zurück. Am 17. März 1944 starb er im Arbeitskommando 607R an Erstickung.
Tod im Emsland
Efim Bidorisch wurde im Jahr 1914 im Gebiet Nikolajew geboren. Er war verheiratet und arbeitete in der Landwirtschaft. Am 26. September 1941 geriet er bei Sewastopol in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Bombenangriff am 5. Mai 1943 brachte man ihn am 7. Mai nach Bockum-Hövel in das Arbeitskommando 503R Zeche Radbod, von wo er am 13. September 1943 in das Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl zurückkehrte. Am 19. Juli 1944 kam er ins Lagerlazarett, am 8. August 1944 brachte man ihn in das Stalag VI C Bathorn, Zweiglager Wietmarschen, wo er am 27. Oktober 1944 starb.
Daniil Kowalenko wurde im Jahr 1914 im Gebiet Nikolajew geboren. Von Beruf war Zimmermann. Am 3. Juni 1942 geriet er bei Sewastopol in deutsche Kriegsgefangenschaft. Bei dem Bombenangriff am 5. Mai 1943 wurde er verletzt. Vom 9. Mai bis 27. Juli war er im Krankenrevier. Am 30. Juli 1943 kehrt er in das Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl zurück. Dort erlitt er am 9. August 1943 bei einem Arbeitsunfall eine Quetschung der Hand. Am 7. Juni 1944 kam er ins Lagerlazarett. Am 19. Juni 1944 brachte man ihn in das Stalag VI C Bathorn, Zweiglager Alexisdorf, wo er am 11. September 1944 starb.
Pjotr Kriwoschejew wurde am22.Juni 1914 im Gebiet Nikolajew geboren. Von Beruf war er Tischler, er war verheiratet. Am 23. Mai 1942 geriet er bei Sewastopol in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Bombenangriff am 5. Mai 1943 brachte man ihn am 7. Mai nach Bockum-Hövel in das Arbeitskommando 503R Zeche Radbod, von wo er am 5. Oktober 1943 in das Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl zurückkehrte. Am 20. Juni 1944 kam er ins Lagerlazarett. Am 14. Juli 1944 brachte man ihn in das Stalag VI C Bathorn, Zweiglager Alexisdorf, wo er am 22. Juli 1944 starb. Alexej Tschumankow wurde am 13. März 1909 im Gebiet Amur geboren. Er war Landarbeiter und verheiratet. Am 21. Juli 1942 geriet er bei Rostow in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Bombenangriff am 5. Mai 1943 blieb er im Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl. Am 26. Juli 1944 brachte man ihn ins Lagerlazarett. Von dort am 5. September 1944 zunächst in das Stalag VI C Bathorn, Zweiglager Wesuwe und am 7. September in das Zweiglager Alexisdorf, wo er am 4. November 1944 starb.
Erinnerung an die Zwangsarbeiter
Einige der Kriegsgefangenen brachte man nach der Bombennacht am 5. Mai 1943 für kurze Zeit von der Zeche Kaiserstuhl, die sich im Besitz von Hoesch befand, auf der Zeche Radbod in Bockum-Hövel, die ebenfalls Hoesch gehörte. Auf dem ehemaligen Gelände der Zeche Radbod wurde unlängst eine Geschichtsstele zur Erinnerung an die Menschen, die auf der Zeche Radbod Zwangsarbeit leisten mussten, errichtet. Erfreulich wäre es, wenn auch in Dortmund Erinnerungsorte für die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen der zehn Dortmunder Zechen geschaffen würden.
Am 5. Mai 1943 wurde die Dortmunder Nordstadt, die Westfalenhütte und die Zeche Kaiserstuhl durch einen schweren Bombenangriff getroffen, der viele Todesopfer forderte. Zu den Opfern gehörten auch 194 sowjetische Kriegsgefangene des Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl.
Nach Unterlagen der Stadt Dortmund kamen am 5. Mai 1943 35 Zivilarbeiter*innen sowie 28 französische und 240 „russische“ Kriegsgefangene um. Sie wurden zunächst als Opfer des Bombenangriffs gemeldet. Die Zahl der getöteten sowjetischen Kriegsgefangenen korrigierte die Stadt Dortmund später. Auch die Männer des Arbeitskommandos 607R wurden aus der Liste gestrichen. Ins Sterbebuch trug man sie nicht ein. Ihre Überreste wurden anonym auf dem Internationalen Friedhof begraben. In Dortmund wurden sie schnell vergessen.
Doch vor wenigen Jahren konnte eine Verlustliste des Stalag VI A Hemer ausfindig gemacht werden. Sie nennt die 194 sowjetischen Kriegsgefangenen namentlich, die bei dem Bombenangriff am 5. Mai. 1943 auf Zeche Kaiserstuhl umkamen. Erst heute kennen wir die Namen und das Schicksal der Männer des Arbeitskommandos 607R.
Sowjetische Kriegsgefangenene leisten Zwangsarbeit auf Ruhrgebiets Zechen
Von der Reichsvereinigung Kohle war seit Sommer 1941 gefordert worden sowjetische Kriegsgefangene auf den Zechen einzusetzen. Mit dieser Forderung setzte sie sich, nach anfänglicher Weigerung der Nazioberen, im Sommer 1942 durch. Mit dem Einsatz von sowjetischen Kriegsgefangenen sollte der Arbeitskräftemangel, der durch die zunehmende Einberufung von Bergleuten zur Wehrmacht entstanden war, beseitigt werden. Die Kohle wurde gebraucht, um den Energiebedarf der Stahlwerke und Rüstungsbetriebe zu befriedigen.
Zur schnellen Zuweisung der Gefangenen funktionierte die Wehrmacht im Oktober 1942 das Stalag (Mannschaftsstammlager) VI A im sauerländischen Hemer zu einem speziellen „Bergbaulager“ um. Bereits im Herbst 1942 wurden sowjetische Kriegsgefangene in großer Zahl aus anderen Stalags in das Stalag IV A gebracht und von dort kamen sie sofort in die Arbeitskommandos auf die Zechen des Ruhrgebiets. Die Gefangenen waren nun Bergleute, doch für die harte Arbeit erhielten sie keinen angemessenen Lohn. Ohne ausreichende Ernährung, ohne geeignete Kleidung, ohne eine entsprechende Unterkunft und ohne die notwendige Gesundheitsversorgung waren sie in umzäunten und bewachten Lagern untergebracht und mussten auf den Zechen schuften. Bombenangriffen waren sie ausgeliefert, da es ihnen nicht erlaubt war Schutzräume aufzusuchen.
Das Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl
Auch auf der Zeche Kaiserstuhl setzte man auf Zwangsarbeit. Um die Jahreswende 1942/1943 dürften mehr als 500 sowjetische Kriegsgefangene im Arbeitskommando 607R Zeche Kaiserstuhl gewesen sein. Knapp die Hälfte von ihnen kam aus frontnahen Lagern, wo sie seit ihrer Gefangennahme unter schwierigsten Bedingungen in Gewahrsam waren. Ein Viertel war bereits im Reichsgebiet und kam aus Stalags mit landwirtschaftlichen oder kleinindustriellen Arbeitskommandos. Ein weiteres Viertel war aus dem Stalag VI K in der Senne, das speziell für sowjetische Kriegsgefangene errichtet worden war. Aus den Lagern brachte man die Gefangenen in das Stalag VI A und nach wenigen Tagen auf die Zeche Kaiserstuhl.
Die 10 Männer der Bildergalerie kamen mit einer größeren Gruppe am 11. November aus dem Stalag VI K Senne im Stalag VI A Hemer an. Bereits am 16. November wurden sie an die Zeche Kaiserstuhl geleifert.
Alexander Kolesin wurde im Jahr 1921 im Gebiet Jaroslawl geboren, von Beruf war er Müller. Am 25.9.1941 geriet er bei Dnperpetrowsk in deutsche Kriegsgefangenschaft
Alexej Garan wurde im Jahr 1918 im Gebiet Nikolajew geboren. Von Beruf war er Techniker. Im Mai 1942 geriet er bei Charkow in deutsche Kriegsgefangenschaft
Sergej Iwanschenko wurde im Jahr 1924 auf der Krim geboren. Er war Schüler. Am 8. Juli 1942 geriet er bei Woroschilowgrad, dem heutigen Lugansk, in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Grigori Skorochod wurde im Jahr 1901 im Gebiet Rostow geboren. Er arbeitete in der Landwirtschaft und war verheiratet. Im Juni 1942 geriet er bei Sewastopol in deutsche Kriegsgefangenschaft
Boris Ippolitiow wurde im Jahr 1919 in Leningrad geboren. Von Beruf war er Tischler. Am 19.5.1942 geriet er auf der Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft. Pawel Dobrij wurde im Jahr 1910 im Gebiet Smolensk geboren. Er war verheiratet und von Beruf Schuhmacher. Am 29.9.1941 geriet er auf der Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft
Nikolaj Eskow wurde im Jahr 1923 im Gebiet Kursk geboren. Von Beruf war er Handwerker. Am 16. Juni 1942 geriet er bei Charkow in deutsche Kriegsgefangenschaft Efim Petrow wurde 1910 im Gebiet Nikolajew geboren. Er war verheiratet und von Beruf Tischler. Im Juli 1942 geriet er bei Sewastopol in deutsche Kriegsgefangenschaft
Pawel Maltschenko wurde im Jahr 1918 im Gebiet Nikolajew geboren. Er war in der Landwirtschaft tätig. Am 4.7.1942 geriet er bei Sewastopol in deutsche Kriegsgefangenschaft
Dmitrij Borisenko wurde 24.10.1925 in Mogilew geboren. Er war Schüler. Am 24.9.1941 geriet er bei Melitopol (Ukrainische SR) in deutsche Kriegsgefangenschaft
Die 10 Männer des Arbeitskommandos 607 R Zeche Kaiserstuhl starben am 5. Mai 1943 mit 184 weiteren sowjetischen Kriegsgefangenen bei dem schweren Bombenangriff auf den Dortmunder Norden.
80 Jahren sind vergangen, jetzt erst sagen wir – WE REMEMBER
Im April 2023 war Anatoli Artemenko in der Gedenkstätte Stalag 326 zu Gast. In einem bewegenden Vortrag schilderte er das Leben seines Großvater Iwan Semjenowitsch Artemenko, der im Stalag 326 als sowjetischer Kriegsgefangener inhaftiert war.
Iwan Semjenowitsch Artemenko wurde am 2. Februar 1904 im Dorf Ljubjanka im Gebiet Kiew, in der Ukraine, geboren. Er hatte 3 Brüder. Seine Familie besaß damals eine größere Landwirtschaft. Der landwirtschaftliche Betrieb wurde in den 1920ziger Jahren kollektiviert. Iwan arbeitet danach auf der Kolchose. Er erwarb Kenntnisse in der Landwirtschaft und darüber hinaus entwickelte er in verschiedenen Gewerken handwerkliche Fähigkeiten, zum Beispiel bei der Herstellung von Keramiken und als Zimmermann. Mit seiner Ehefrau Maria hatte er 3 Söhne und ein Tochter.
Quelle: Gedenkstätte Stalag 326
Soldat in der roten Armee
Im Sommer 1941, nachdem Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfallen hatte, wurde Iwan Artemenko zum Militärdienst in die Rote Armee einberufen und bei der Verteidigung Kiews eingesetzt. Die Schlacht um Kiew begann Mitte August 1941. Kiew wurde eingekesselt. Ende September war die Rote Armee geschlagen. Die Wehrmacht besetzte Kiew und die große Teile der Ukraine. Hunderttausende Rotarmisten gerieten in Kriegsgefangenschaft. Lange Fußmärsche, keine Verpflegung, campieren auf freien Feld, Hunger und Durst, Krankheiten und Seuchen führten dazu, dass mehr als 130000 kriegsgefangenen Rotarmisten der Kesselschlacht um Kiew in den folgenden Monaten umkamen. Verwundete hatten kaum eine Überlebenschance.
Untergetaucht in der besetzten Ukraine
Auch Iwan Artemenko wurde verwundet. Er erlitt eine Verletzung am Bein. Zu seinem Glück geriet er nicht in Kriegsgefangenschaft. Er hielt sich versteckt und wurde von einer Krankenschwester gesundgepflegt. Für ihn war es lebensgefährlich in von der Wehrmacht besetzten Gebieten unterzutauchen. Und ebenso war es sehr gefährlich für die Menschen, die ihn versteckt hielten und gesund pflegten, versprengte Rotarmisten zu verbergen und zu unterstützen. Nach seiner Gesundung kehrte er im Frühjahr 1942 in sein Dorf zurück. Auch das Kiewer Gebiet, in dem sein Dorf lag, war von Deutschland besetzt. Er musste sich nach seiner Rückkehr weiterhin versteckt halten. Das war möglich, weil sein Cousin Bürgermeister des Dorfes war. Im Herbst 1943 wurde das Gebiet Kiew von der Roten Armee befreit.
Wieder in der Roten Armee
Zwar war nun die Zeit der Heimlichkeit und des Versteckens vorüber, aber er musste erneut Soldat werden. Am 22. Juni 1944 begann die Offensive der Roten Armee auf allen Fronten. An der Ukrainischen Front, wo Iwan Artemenko Soldat war, begann am 13. Juli die militärische Operation zur Rückeroberung Lembergs. Er nahm an dieser Offensive teil und erlitt eine Verletzung an der Schulter. An den Kämpfen war auch die SS beteiligt, die verwundete Rotarmisten bei der Gefangennahme sofort tötete. Iwan entging nur knapper mit Not seiner Ermordung durch die SS, indem er sich bei dem Erschießungskommando totstellte. Bei seiner Einheit nahm man jedoch an, er sei tot und übermittelte seiner Ehefrau die Nachricht, dass er am 25. Juli gefallen sei.
In Kriegsgefangenschaft geraten
Am 30. Juli geriet er bei Sambor in deutsche Kriegsgefangenschaft. Zunächst brachte man ihn in das Stalag 367 Wartheland, einem Zweiglager des Stalag 367 Tschensdochau. Dort wurde er als verwundet registriert. Auf seiner Personalkarte I ist der Vermerk „vulnus sclop et fractura humerid“, das heißt er hatte eine Schusswunde und eine Fraktur der Schulter erlitten. Wegen der herannahenden Front wurde das Stalag 367 im August 1944 aufgegeben.
Personalkarte 1 von Iwan Semjenowitsch Artemenko, Quelle Gedenkstätte Stalag 326
Kriegsgefangener im Stalag 326
Am 18. August kam Iwan im Stalag 326 Stuckenbrock an. Man brachte ihn zunächst ins Lazarett, wo er von sowjetischen Ärzten, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, behandelt wurde. Nach Berichten von Zeitzeugen aus dem Lagerlazarett des Stalag 326 hatten die sowjetischen Ärzte das Ziel mit allen Mitteln das Leben möglichst vieler Kriegsgefangener zu erhalten. Die Ärzte taten alles um Erkrankte und Verletzte solange wie mögliche im Lazarett zu behalten
Doch im Oktober 1944 wurde Iwan aus dem Lazarett entlassen und kam ins Lager. Die Lebensbedingungen waren hart, die Verpflegung war völlig unzureichend: morgens ein Stück Brot und Marmelade, mittags eine Wassersuppe, der sogenannte Balanda. Viele Gefangene versuchten durch die Herstellung von Kleidung oder kunsthandwerklichen Gegenständen, die sie gegen Essen eintauschen konnten, ihre Verpflegung aufzubessern. Auch Iwan versuchte das und nähte Hüte, die er durch den Stacheldrahtzaun gegen Brot eintauschte. Dabei wurde er von einer deutschen Bäuerin bemerkt. Sie erreichte, dass er auf ihrem Hof arbeiten konnte. Für ihn war das die Rettung, wie er später seiner Familie berichtete. Im Winter, wenn die Bauern weniger zu tun hatten, besserten sie ihr Einkommen durch die Herstellung von Blechspielzeug in Heimarbeit auf. Er half bei der Heimarbeit und in der Landwirtschaft. So haben ihm seine landwirtschaftlichen Kenntnisse und sein handwerkliches Geschick das Überleben gesichert. Am 2. April 1945 wurde das Stalag 326 von US-Truppen besetzt. Amerikanische Offiziere führten mit den Gefangenen Interviews und berichteten ihnen, dass die aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Rotarmisten mit Verfolgung rechnen müssten. Sie boten die Emigration in die USA an. Doch Iwan wollte in seine Heimat und zu seiner Familie zurückkehren. Seine Familie wurde im April 1945 von der Nachricht über sein Überleben überrascht. Sie hatten in für Tod gehalten und schon eine Trauerfeier für ihn geplant.
Rückkehr in die Heimat
Nach seiner Entlassung aus dem Stalag 326 wurde er nach Kiew gebracht. Von dort war es nicht weit bis zu seinem Dorf Ljubjanka. Doch eine Rückkehr zu seiner Familie und in sein Dorf bedeutet das nicht. Er kam, wie die meisten Rotarmisten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, in ein Filtrationslager, wo er befragt und überprüft wurde. Einmal erhielt er die Erlaubnis seine Familie zu besuchen. Dann brachte man ihn in ein Arbeitslager in den Donbass. Wieder half ihm sein handwerkliches Geschick. Er musste nicht auf den Zechen oder in den Stahlwerken des Donbass arbeiten. Er arbeitet als Keraminkmeister in einer Töpferei , wo Haushaltsgeschirr hergestellt wurde. Erst nach dem Tod Stalins erhielt er die Erlaubnis zu seiner Familie zurückzukehren. In all den langen Jahren im Lager war nie Anklage gegen ihn erhoben worden. Nach seiner Rückkehr arbeitete er in seinem Dorft Ljubjanka als einfacher Arbeiter. Er betreute die Pferde im Kolchos. Mit seinem Sohn, der in Tchernobyl lebte, baute er ein Haus.
Anatoli Artemenko im Gespräch mit Dmitriy Kostovarov
Erinnerungen an den Großvater
Seine Enkelkinder besuchten ihn in den Sommerferien. Sein Enkel Anatoli erinnert sich an unbeschwerte Ferien im Dorf bei seinen Großeltern, wenn er mit den anderen Kindern die Wälder und Wiesen durchstreifte, im nahegelegenen Bach fischte oder mit dem Großvater die Pferde versorgte. Der Großvater betrieb im Nebenerwerb eine Töpferwerkstatt, wo er Haushaltsgeschirr, Teller, Tassen, Schüsseln und Krüge, herstellte. Er lehrte auch seine Enkel das Töpfern und in den Ferien begleiteten ihn seine Enkel oft, wenn der Großvater sein Geschirr auf dem Markt in Tschornobyl verkaufte. So erinnert sich Anatoli Artemenko an den Großvater. Von der Zeit seiner Gefangenschaft im Stalag sprach der Großvater selten, doch wenn er über seine Gefangenschaft sprach, erzählte er von der Zeit, in der auf dem Hof der deutschen Familie lebte. Seine Enkelkinder besuchten ihn in den Sommerferien. Sein Enkel Anatoli erinnert sich an unbeschwerte Ferien im Dorf bei seinen Großeltern, wenn er mit den anderen Kindern die Wälder und Wiesen durchstreifte, im nahegelegenen Bach fischte oder mit dem Großvater die Pferde versorgte. Der Großvater betrieb im Nebenerwerb eine Töpferwerkstatt, wo er Haushaltsgeschirr, Teller, Tassen, Schüsseln und Krüge, herstellte. Er lehrte auch seine Enkel das Töpfern und in den Ferien begleiteten ihn seine Enkel oft, wenn der Großvater sein Geschirr auf dem Markt in Tschornobyl verkaufte. So erinnert sich Antatoli Artemenko an den Großvater.
Von der Zeit seiner Gefangenschaft im Stalag sprach der Großvater selten, doch wenn er über seine Gefangenschaft sprach, erzählte er immer von der Zeit, in der auf dem Hof der deutschen Familie lebte.
Späte Anerkennung
Eine Anerkennung für seine Zeit in der Roten Armee und die Teilnahme am Krieg erhielt er erst am Ende seines Lebens, Mitte der 1960ziger Jahre. Man überreichte ihm eine Medaille als Auszeichnung. Eine Entschädigung oder Entschuldigung von deutscher Seite erhielt Iwan Artemenko, er wie vielen tausend andere sowjetische Kriegsgefangenen, nie. Erst 2015 sprach der Deutsche Bundestag den überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen eine symbolische Entschädigung zu, da lebten nur noch 3000 von ihnen.
Mit einer Gedenkveranstaltung in der Bittermark im Dortmunder Süden gedachten etwa 800 Menschen der Opfer der Bittermarkmorde. In der Karwoche 1945 wurden in den südlichen Waldungen der Stadt Dortmund und an anderen Stellen etwa 300 Menschen von der Gestapo ermordet. Unter den Ermordeten waren die Mitglieder einer Widerstandsgruppe aus Dortmund. Die Namen der deutschen Opfer kennen wir und auch ihre Herkunft, ihre Geschichte und oft auch die Umstände ihres Todes. Alljährlich werden ihren Namen verlesen und über ihr Leben und Sterben wird gesprochen und auf Tafeln berichtet.
Doch die meisten Ermordeten waren Zwangsarbeiter*innen: Sowjetbürger, Franzosen, Belgier, Niederländer, Polen, Serben. Während die deutschen Opfer von ihren Angehörigen, von Freunden und Arbeitskollegen identifiziert werden konnten, kennen wir die Namen der meisten Zwangsarbeiter*innen auch heute nicht und selbst wenn uns die Namen bekannt sind, wissen wir oft nichts über ihr Leben, ihre Herkunft und über ihr Sterben, denn kein Zeitzeuge, kein Angehöriger konnte über sie erzählen und auch heute wird den meisten ermordeten Zwangsarbeiter*innen nur mit dürren Worten gedacht.
Es wäre an der Zeit auch den wenigen Spuren der Menschen, die nach Deutschland verschleppt wurden und hier Zwangsarbeit leisten mussten, nachzugehen. Diese Menschen haben in den Dortmunder Betrieben zusammen mit deutschen Arbeiter*innen gearbeitet. Sie waren jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit auf den Straßen Dortmunds zu sehen. Sie wurden wegen Kleinigkeiten eingekerkert. Sie saßen mit den deutschen Widerstandskämpfer*innen im Gefängnis und wurden mit ihnen zusammen ermordet. Die Erinnerung an die Opfer der Nazis ist unteilbar, das Gedenken in der Bittermark sollte es auch sein.
Wir forschen weiter, um die Schicksale der Opfer der Bittermark zu klären. Mehrere Veröffentlichungen über die Menschen, die in letzten Tagen des Krieges in Dortmund getötet wurden, zeigen, dass vorallem die Bemühungen der Familien die Identifizierung ermöglicht hat. 12 Ermordete wurden von Familienangehörigen identifiziert. Später wurde diese Liste auf 33 Personen erweitert. Die Möglichkeit ihre ermordeten Angehörigen zu identifizieren hatten aber nur Familien in Deutschland, doch auch in der ehemaligen Sowjetunion haben Familien nach ihren Angehörigen gesucht. Die unten beschriebenen Fälle zeigen die Möglichkeiten, die den Familien in der ehemaligen Sowjetunion, in allen 15 Sowjetrepubliken, zur Verfügung standen, um nach ihren Angehörigen zu suchen.
Trofim Efimowitsch Litwin
So hat die Mutter vom Trofim Efimowitsch Litwin 1949 einen Suchantrag gestellt.
Suchantrag Trofim Efimowitsch Litwin, Quelle: OBD-Memorial, ID 70120548, Seite 3
Übersetzung des Suchantrags nach Trofim Efimowitsch Litwin
Fragebogen zur Suchaktion nach einem Rotarmisten
Fragen
Antworten
1. Name , Vorname, Vatername
Litwin, Trofim Efimowitsch
2. Geburtsdatum
1917
3. Geburtsort, Gebiet, Bezirk, Dorf/Stadt
Gebiet Poltawa, Bezirk Kobelezkij, Dorf Komarowka
4. Durch wen und wann mobilisiert
Oktober 1939, Mobilisierungspunkt Stadt Poltawa
5. Dienstgrad
Rotarmist
6. Letzter schriftlicher Kontakt
15.09.1941, (der Ort war von den Deutschen besetzt)
7. Poststempel der letzten Adresse
Gemäß Poststempel auf dem letzten Brief vom 21.2.1941, Feldpost-Nr. 35-10. 594 I.D
8. Letzter Wohnort vor der Mobilisierung
Stadt Poltawa, Komsomolskaja Straße 49
9. Zusätzliche Information über den Gesuchten
auf der beigefügten Photographie ist ersichtlich, dass Litwin, T.E. seinen Dienst bei der 591. Inf.Div. der Moldawischen SSR, Stadt Beljzy tat
13. Persönliche Entscheidung des Leiters des Militäramts zum Schicksal des Kriegsdienstleistenden
vermisst seit Oktober 1941
14. Grund für die verspätete Suche
Wir hatten keine bestätigten Dokumente und keine genaue Dienstadresse. Wir sandten einen Brief nach Moskau, erhielten aber keine positive Antwort
Anlagen: 1. Photographie von Litwin, T.E.,2. Bestätigung aus dem Amt des Dorf Komarowka, 3. Vorderseite eines Kuverts
Nr- 17
Leiter des Amtes
28. März 1949
Oberstleutnant xxxxxx
Militäramt Kobeljskij
Entscheidung: Als vermisst registriert
Trofim Efimowitsch Litwin, im Herbst 1940
Die Bearbeitung der Suchanfragen hatten überall den gleichem Ablauf. Nachdem die Familienangehörigen einen Suchantrag bei der örtlichen Militärbehörde gestellte hatte, prüfte diese alle Angaben und sandte den Antrag nach Moskau. Dort wurden verschiedene Quellen abgefragt: „Gefallene und Registrierte in Verlustlisten“, „Verwundete und Evakuierte“, „Gefangene“ u.s.w. Wurde der Name des Gesuchten gefunden, suchte man nach weiteren Informationen. War die Suche erfolglos, wurde eine Sammelliste nach Orten erstellt und an die anfragende Stelle zurück gesandt. Vor Ort teilte die Militärbehörde den Angehörigen mit, dass der Gesuchte als „vermisst“ gemeldet ist und stellte den Bescheid für die Zahlung einer Rente aus.
Anwar Hassanowitsch Isaew
Suchantrag der Familie Isaew
Quelle: OBD Memorial ID 70276022
Übersetzung der Suchanfrage der Familie Isaew
Fragebogen
1. Name, Vorname, Vatername
Isaew, Anwar Hassanowitsch
2. Geburtsdatum
1920
3. Geburtsort
Dorf Atenino, Bezirk Tunguschewkij, Mordowskaja, ASSR (Zentralrussland)
4. Durch welches Militäramt einberufen
Naukatskij, Mobilisationspunkt Bezirk Osch
5. Dienstgrad
Rotarmist
6. Amt in der Roten Armee
7. Adresse der Einheit im letzten Brief
keinen Brief erhalten
8. Wann ist die briefliche Verbindung abgebrochen
im November 1941
9. Wohnort vor der Mobilisierung
Aul Iski-Naukat, Bezirk Naukatskij, Gebiet Osch (Kirgisische SSR)
10. Zusätzliche Informationen über den Gesuchten
keine
11. Falls es Informationen über den Tod gibt, machen Sie Angaben wo und wann
keine
12. Wer sucht
Isaew, Hassan Iljasowitsch
13. Familiäres Verhältnis zum Gesuchten
Vater
14. Wohnort
Stadt Fergana, Schtschörss Straße 10 Usbekische SSR
15. Persönliche Entscheidung des Leiters
wegen fehlender Information im Militäramt gehe ich davon aus, dass er vermisst ist
Entscheidung: Registrieren als „vermisst“ seit Dezember 1941, Bescheid (für die Zahlung der Rente) herausgeben
Leiter des Amtes, 17.04.1958 Oberstleutnant xxxxxxx
Anton Kirillowitsch Grebenjuk
In der Regel wurde nach dem Krieg von den Stadtverwaltungen in jedem Haushalt Abfragen nach Vermissten macht. Das örtliche Militäramt erstellte nach diesen Angaben Listen, auf denen die Rotarmisten eingetragen waren, die nicht zurückkehrten. Diese Liste wurde im Verlauf mehrerer Jahre gemeinsam vom Militäramt und vom Geheimdienst geprüft. In einigen Fällen führte diese Prüfung zur Gewissheit über das Schicksal des Gesuchten. Bei der großen Mehrheit steht als Ergebnis – „vermisst“ und das Datum gerechnet ab dem Datum des letzten Briefes plus 3 Monate.
Genau das sehen wir in den weiteren Dokumenten.
Informationen aus Dokumenten, die den Verlust angegeben ID 65914854
Name Grebenjuk Vorname Anton Vatername Kirillowitsch Geburtsdatum __.__.1924 Geburtsort Ukranische SSR, Gebiet Zhitomir, Dorf Ozerjany, Bezirk Brusilow Mobilisiert 06.1941 Militäramt Brusilow, Ukranische SSR, Gebiet Zhitomir, Dorf Ozerjany, Bezirk Brusilow Dienstrang Rotarmist Grund für den Verlust vermisst Datum des Verlust __.03.1944* Quelle des Bericht ZAMO
* für die von Deutschland besetzten Teile der Sowjetunion galt die Regeln das Datum des Verlustes als Vermisste/r ist„3 Monaten nach Befreiung der Region“
Verlustliste auf der Anton Kirillowitsch Grebenjuk verzeichnet ist, Quelle OBD Memorial ID 65914854
Unter Nummer 8 der Liste wird Anton Kirillowitsch Grebenjuk ausgeführt. Nur sehr wenig ist von ihm in Erinnerung geblieben. Seine Mutter, Anna Pawlowna Grebenjuk, hatte nicht viele Möglichkeiten für eine Suche. Sie erhielt am 25. September 1946 den Bescheid des örtliches Militärsamt „vermisst zusammen mit 14 anderen Rotarmisten aus den umliegenden Dörfern“.
Iwan Petrowitsch Haew
Iwan Petrowitsch Haew wurde als Infanterist ohne Parteizugehörigkeit mobilisiert. Den letzte Brief hat er von der Feldpost 59/2, Bahnhof Tschizhowo, Dorf Zarabby-Kostji, Gebiet Belostock, am 20.06.1941 abgeschickt. Seine Ehefrau, Olga Iwanowna Haewa, erhielt nur die Nachricht, dass ihr Ehemann als „vermisst seit Dezember 1941“ gilt. Dieser Bescheid ist vom 3.12.1947 . Der Bescheid bedeutete für Olga Iwanowna Haewa, dass keine weiteren Nachforschungen folgen würden. Damit hatte sie die letzte Hoffnung auf die Rückkehr ihres Ehemanns verloren.
Informationen aus Dokumenten zur Klärung von Verlusten ID 62330033
Familienname Haew Vorname Iwan Vatername Petrowitsch Geburtsdatum 1914 Geburtsort Gebiet Iwanowo, Dorf Medwezhje Datum und Ort der Mobilisierung 20.06.1940, Militärbehörde der Stadt Palech, Gebiet Iwanowo Dienstgrad Rotarmist Grund für den Verlust vermisst Datum des Verlust 12.1941 Quelle ZAMO
Unter der Nummer 8 sehen wir die kurze Informationen aus Befragungen des örtlichen Militärsamts.
Verlustliste auf der Iwan Petrowitsch Haew verzeichnet ist, Quelle 62330033
Schon in September 1941 musste Iwan Haew in der Stadt Meissen Zwangsarbeit leisten. Am 21.10.1941 wird er an das Stalag IV H gebracht. Darüber haben wir in unserem Beitrag „Leben und Sterben der sowjetischen Gestapo-Opfer“ berichtet. Auf der Arbeitskarte ist sein Tod nicht dokumentiert. Weitere Dokumente sind während des Krieges verloren gegangen. Ebenso wie seine Dokumente verschwand auch Iwan Petrowitsch Haew, wie es von der Gestapo geplant war.
In der Vergangenheit wussten die sowjetische Seite nichts von den Gestapo-Listen und die deutsche Seite kannte die Suchmeldungen der Angehörigen nicht. Heute aber haben alle Seiten Zugang zu diesen Dokumenten, deshalb muss alles dafür getan werden Namen und Schicksal der „Vermissten“ zu erforschen, sonst erreichen die Nazis ihr Ziel: Menschen, die von ihnen in rassistischer Weise abgewertet wurden, die sie gequält, ausgebeutet und ermordet haben, einfach spurlos verschwinden zu lassen.
Im Stadtarchiv der Stadt Dortmund geben zahlreiche Dokumente Zeugnis von der grausamen Arbeit der Gestapo. Auch in den letzten Kriegstagen wurden Verhaftungen akribisch vermerkt. Die Dokumente über die Gestapo-Haft sowjetischer Bürger*innen enthalten für diese Zeit 117 Einträge. Hinter den Namen dieser Verhafteten findet sich oft der Vermerk „entlassen“. Anders als der Begriff „entlassen“ vermuten lässt, haben diese Gefangenen ein grausames Schicksal, denn die Eintragung „entlassen“ war ein Todesurteil für die Gefangenen. So gehen wir davon aus, dass unter den 117 Menschen auf der Liste der Gestapo, 98 Gefangene, hinter deren Namen den Vermerk „entlassen“ steht, die letzte Tage des Krieges nicht überlebten.
Nur wenige haben überlebt
Nur wenige Gefangene haben die Gestapo-Haft und die letzte Tage des Krieges überlebt. Für einigen Menschen haben wir jetzt persönliche Dokumenten in verschiedenen Archiven gefunden.
Pawel Wasiljewitsch Philipin
Auf der oben genannten Gestapo-Liste ist Paul Pilipin, geboren 1911, unter der Nr. 8554 eingetragen. Er war am 2.4.1945 in Gestapo-Haft. Nach eingehender Recherche konnten wir in der Datenbank OBD-Memorial (https://obd-memorial.ru/html/) unter der ID 79919315 einen Eintrag für Philipin (Filipin), Pawel Wasiljewitsch finden. Wir gehen davon aus, dass es sich um den in der Liste genannten Paul Pilipin handelt, denn nach unserer Erfahrung wurden Namen von sowjetischen Bürger*innen bei der Registrierung sehr oft fehlerhaft aufgenommen. Darüber hinaus differiert die Schreibung von Namen in lateinischer, deutscher und kyrillischer Schrift.
Informationen aus dem Archiv ID 79919315
Familienname Philipin (Filipin) Vorname Pawel Vatername Wasiljewitsch Geburtsdatum 1911 Geburtsort Rjsaner Gebiet, Dorf Nikoljskoe Datum und Ort der Mobilisierung 1941 Letzter Dienstort Einheit 904. Infanterie Regiment DienstgradRotarmist Grund des Verlustes in Gefangenschaft geraten (befreit) Datum des Verlust 20.08.1941
Der Eintrag in der Datenbank OBD-Memorial besagt, dass Pawel Wasiljewitsch Philipin bereits im August 1941 in Gefangenschaft geriet und am Ende des Krieges befreit wurde. Er hatte also eine lange Gefangenschaft hinter sich. Darüber geben zwei Transportkarten Auskunft: OBD Memorial, ID 1978125561 Transportkarte Filipin, Pavel zum Stalag XIII A Sulzbach Rosenberg (Bayern)
OBD Memorial, ID-Nr. 1978107752 Transportkarte Filipin, Pavel vom Stalag XIII A Sulzbach Rosenberg (Bayern) zum Stalag XIII D zum Stalag XIII A Nürnberg-Langwasser
Es ist anzunehmen, dass Pawel Philipin nach Dortmund kam, da sehr viele sowjetische Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit in die Betriebe und Zechen des Ruhrgebiets gebracht wurden.
Pjotr Iwanowitsch Powarow
Auch Pjotr Powarow (Peter Powarow) geriet in Gestapo-Haft und wurde unter der Nr. 10020 registriert, auch er wurde nach dem Ende des Krieges befreit.
Informationen aus dem Archiv ID85494462
Familienname Powarow Vorname Pjotr Vatername Iwanowitsch Geburtsdatum 1918 Geburtsort Smolensk, Degtjarowa 2 Datum und Ort der Mobilisierung 09.05.1934, Waisenhaus, Stadt Smolensk Dienstrang Unterleutnant Grund für den VerlustIn Gefangenschaft geraten (befreit) Datum des Verlust 27.10.1941 Quelle ZAMO
Seine Filtrationskarte besagt: Der Unterleutnant Pjotr Iwanowitsch Powarow geriet leichtverwundet am 27.10.1941 in Kriegsgefangenschaft. Am 13.04.1945 befreiten ihn die Amerikaner in Dortmund. Bis November 1946 wurde er in verschiedenen Filtrationslagern überprüft. Danach arbeitete er bei einem Moskauer Bauunternehmen.
Filtrationskarte von Pjotr Iwanowitsch Poworow
Der Vermerk „entlassen“ war ein Todesurteil
Ganz anders aber waren die Schicksale der 98 sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten*innen, deren Gestapo-Akten den Vermerk „entlassen“ tragen. Von keiner dieser Personen finden sich Dokumente über ihre Befreiung und ihre Rückkehr nach Hause.
Anwer Hassanowitsch Issajew
Einer dieser 98 Gefangenen ist An(u)wer Issajew, registriert unter der unter Nummer 8649 in den Gestapo-Akten. Seine Familie erhielt von ihm im November 1941 das letzte Lebenszeichen.
Informationen aus dem Archiv ID 70276022
Familienname Isaew Vorname Anwar Vatername Hasanowitsch Geburtsdatum 1920 Geburtsort ASSR Mordowien, Dorf Atenino Datum und Ort der Mobilisierung 13.02,1941 ,Kirgisische SSR, Gebiet Osch Dienstgrad Rotarmist Grund für den Verlustvermisst Datum des Verlust 12.1941 Quelle ZAMO
Iwan Petrowitsch Haew
Über den unter der Nummer 8666 eingetragenen Iwan Haew gibt es Informationen in der Datenbank OBD-Memorial. Iwan Petrowitsch Haew war seit dem 20.6.1940 Soldat, sein letzter Dienstort war Belostock ganz im Westen der Sowjetunion. Ab Ende Juni 1941 hatte seine Familie keine Nachricht mehr von ihm.
Informationen über Kriegsgefangenen ID 72230514
Name Haew Vorname Iwan Geburtsdatum 04.08.1914 Lager Stalag (Lager in dem der Gefangene registriert wurde) IV B Erkennungsmarken-Nr. 123059 Dienstrang Rotarmist Quelle ZAMO
Im September 1941 wurde er im Stalag IV B Mühlberg/Elbe registriert und erhielt die Erkennungsmarken-Nr. 123059. Einige Arbeitseinsätze und Lagern überlebte er.
Er wurde mit sehr großer Wahrscheinlichkeit zur Zwangsarbeit ins Ruhrgebiet gebracht. Sein letztes Lebenszeichen war die Eintragung der Dortmunder Gestapo „entlassen“. Der Vermerk war sein Todesurteil. Er kam nicht nach Hause.
Trofim Efimowitsch Litwin
Trofim Efimowitsch Litwin war seit 1939 Soldat in einer Einheit der Roten Armee in der Stadt Belzy. Seit November 1941 hatte seine Familie kein Lebenszeichen von ihm.
Auch Trofim Litwin geriet in Gestapo-Haft und wurde unter der Nr. 8677 registriert. In den Gestapo-Akten steht neben seinem Namen unter dem 1.4.1945 der Vermerk „4K entlassen“.
Informationen aus Dokumenten zur Klärung von Verlusten ID 70120548
Familienname Litwin Vorname Trofim Vatername Efimowitsch Geburtsdatum 1917 Geburtsort Ukrainische SSR, Gebiet Poltawa, Dorf Komarowka Datum und Ort der Mobilisierung 10. 1939, Ukrainische SSR, Stadt Poltawa, letzter Dienstort P/Ja 35-10 Dienstgrad Rotarmist Grund für den Verlust vermisst Datum des Verlust 12.1943 Quelle ZAMO
Ebenso wie die Familien in Deutschland und Frankreich Nachforschung nach ihren Angehörigen anstellten, die in der Bittermark ermordet wurden, suchten auch die Familien in der Sowjetunion nach ihren ermordeten Angehörigen. Diese Nachforschungen waren in der Nachkriegszeit sehr schwierig. Inzwischen wurde viele Archiven geöffnet, die in der Nachkriegszeit nicht zugänglich waren. Welche Informationen und Dokumente lassen sich dort noch über die 98 aus Gestapo-Haft „Entlassenen“ finden?
Kurz vor dem Ende des Krieges, im Frühjahr 1945, ermordete die Gestapo in der Bittermark und im Rombergpark mehrere hundert Menschen, die genaue Zahl ist nicht bekannt. Eine Liste mit den Opfern der Bittermark enthält 114 Namen, darunter auch einige ausländische Häftlinge, von denen angenommen wird, dass sie in den letzten Kriegstagen in Dortmund ermordet wurden. Als Quellen wird das Buch von Lore Junge „Mit Stacheldraht gefesselt“ angegeben.
Lore Junge gibt in ihrem Buch insbesondere die Biographien der deutschen Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen wieder. Dafür hat sie mit Angehörigen der Ermordeten gesprochen und Akten durchgesehen. Ihrer Arbeit und ihren Recherchen ist es zu danken, dass wir viel über das Leben und die politische Arbeit der ermordeten Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen wissen sowie über ihre Zeit in Haft und die Suche nach den Ermordeten in den Tagen und Wochen nach dem Bekanntwerden der Verbrechen in der Bittermark. Bei ihren Recherchen beruft sich Lore Junge unter anderem auch auf Dokumente der Gestapo und auf den Prozess, der 1952 gegen einige Täter stattfand.
Für die ausländischen Ermordeten der Bittermark ist die Recherche jedoch sehr schwierig. Berichte von Angehörigen liegen in den allermeisten Fällen nicht vor. Die Dokumentenlage über die Verbrechen der Gestapo in den letzten Kriegstage ist lückenhaft. Dennoch liegen dem Stadtarchiv Dortmund Dokumente vor. So sind in Papieren Gestapo unter dem 2. April 1945 zahlreiche Personen mit dem Vermerk „2.04.1945 entlassen“ geführt. Dort finden sich auch die Namen Albert Meyers, Cornelius Bothof und Peter Drapohovich aus der obengenannten Liste.
Nr. in der Opferliste
Nationalität
Name
Letzte Meldung
Eintragung Gestapo
73
Franzose
Meyers, Albert
02.04.1945
entlassen
12
Holländer
Bothof, Cornelius
02.04.1945
entlassen
32
Jugoslave
Drapohovic, Peter
02.04.1945
entlassen
Schauen wir die Gestapo-Akten von sowjetischen Bürgerinnen und Bürgern an, finden wir am gleichem Tag zahlreiche Eintragungen mit dem Vermerk „Gestapo abgeholt“ oder „durch Gestapo entlassen“. So wurden am 2.4.1945 gem. Gestapo-Akten 13 sowjetische Gefangene „entlassen“. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ermordet wurden.
Diese Menschen, die vielleicht in der selben Zelle saßen wie die drei obengenannten Gefangenen, werden bis heute nicht zu den Ermordeten der Bittermark gezählt.
*Der Text ist, soweit nicht anders angegeben, dem Buch von Jochen Hellbeck „Die Stalingrad Protokolle – Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht“, Seite 11-18, Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main, Wien, Zürich, 2012, entnommen.
Die Schlacht um Stalingrad markiert einen Wendepunkt im 2. Weltkrieg. Sie endete mit der Einkesselung und Vernichtung einer gesamten deutschen Feldarmee. Es war die bislang größte Niederlage in der deutschen Militärgeschichte.
28. Juni 1942
Nach den zum Stehen gekommenen deutschen Angriffen auf Leningrad, Moskau und Sewastopol im Herbst 1941 und den sowjetischen Gegenoffensiven im Winter plante Hitler für das zweite russische Kriegsjahr eine umfassende Sommeroffensive unter dem Decknamen „Operation Blau“. Sie begann am 28. Juni 1942 mit einem Großangriff an der russisch-ukrainischen Südfront und sollte Deutschland in den Besitz wichtiger Rohstoffquellen bringen – der Kohlegebiete vom Donbass und der Ölfelder von Maikop, Grosny und Baku. Die Panzer- und motorisierten Infanterieverbände der Deutschen kamen rasch voran. Die Speerspitze in der Heeresgruppe B bildete die 6. Armee von Generaloberst Paulus. Unterstützt von rumänischen Verbänden, erhielten sie den Auftrag, die Industriestadt Stalingrad an der Wolga zu erobern. Zu diesem Zeitpunkt mochte auch sowjetischen Beobachtern scheinen, dass der Krieg bereits entschieden war. Wassili Großman, ein sowjetischer Schriftsteller und Journalist, der als Kriegsberichterstatter für die Zeitung „Roter Stern“ u.a. von der Schlacht um Stalingrad berichtete, notierte im August 1942 in sein Tagebuch: „Dieser Krieg im Süden, am Unterlauf der Wolga, schafft ein Gefühl, als wäre ein Messer tief in den Leib gerammt worden.“
Hitler stilisierte den deutschen Angriff frühzeitig zu einem Entscheidungskampf zwischen den verfeindeten weltanschaulichen Systemen. Am 20 August 1942 notierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: „Es soll kein Stein auf dem anderen bleiben.“ Am 23. August erreichten erste deutsche Panzer 70 Kilometer entfernt die Wolga nördlich von Stalingrad und riegelten den Zugang zur Stadt von Norden her ab.
Stalingrad erstreckte sich wie ein Band 40 Kilometer längs des Westufers der Wolga. Bei Kriegsausbruch zählte Stalingrad knapp 500.000 Einwohner.
Als Industriezentrum und Waffenschmiede spielte es eine wichtige kriegswirtschaftliche Rolle. Im Sommer 1942 war die Stadt zudem von Flüchtlingen überlaufen.
Stalingrad kurz vor dem Angriff, Quelle „Stalingrad Lehren der Geschichte, Hrg. W.I. Tschuikow, Röderberg Verlag, Frankfurt 1979
23. August 1942
„Der Tag begann wie allen anderen. Die Hausmeister trieben Staubwolken von der Platzmitte zum Gehweg. Alte Frauen und kleine Mädchen gingen vorbei, um sich für Brot anzustellen…Tausende Menschen, die am Flusshafen auf die Überfahrt warteten, erwachten langsam und unwillig, gähnten, kratzten sich, kauten trockenes Brot… Die Sonne stieg höher. Und die ganze große, unruhige Stadt, Heerlager und Ort zivilen Lebens in einem, begann zu atmen, begann zu arbeiten… Auf einer Bank neben dem Paradeeingang eines dreistöckigen Hauses hatten es sich zwei hübsche junge Frauen bequem gemacht. Die eine, die Frau des Hausverwalters, stopfte ein Kinderkleidchen, die andere strickte einen Strumpf… Die letzte Stunde Stalingrads, des Stalingrad, wie es vor dem Krieg war, verlief wie alle Stunden und Tage zuvor… Die ersten Flugzeuge tauchten gegen 4 Uhr nachmittags auf. Das Dröhnen der Motoren wurde stärker, zäher, dichter… Alle Geräusche der Stadt duckten sich, verebbten und allein das Dröhnen, das in seiner behäbigen Monotonie die Riesenkraft der Motoren wiedergab, wuchs an verdichtete, verfinsterte sich. Zeitweise konnten das gewaltige Flakfeuer und die Angriffe der Jäger mit dem roten Stern die Formation der deutschen Luftwaffe stören… Als sie sich über der Stadt getroffen hatten, die Flugzeuge aus Osten und Westen aus Norden und Süden, gingen sie in den Sinkflug über… Und ein drittes neues Geräusch ertönte über der Stadt – das bohrende Pfeifen Dutzender und Hunderter von Sprengbomben, die sich von den Tragflächen lösten, das Winseln Tausender und Zehntausender Brandbomben, die aus den aufklaffenden Schüttbehältern stürzten. Die Bomben erreichten die Erde und bohrten sich in die Stadt.“
(Wassili Großman, Stalingrad, Seite 699ff, Ullstein Verlag, 2022)
„Es kamen die schwersten Tage für die Verteidiger von Stalingrad. Im Getümmel der Schlacht um die Stadt, der Angriffe und Gegenangriffe, im Kampf um das „Haus der Spezialisten“, um die Mühle, um das Gebäude der Staatsbank, im Kampf um Keller, Höfe und Plätze zeigte sich eindeutig die Überlegung der deutschen Streitkräfte. Die Initiative, die Treibkraft des Krieges, ging in diesen Tagen von der deutschen Seite aus. Immer weiter schoben sie sich vor, und aller Ingrimm der sowjetischen Gegenangriffe konnte ihren langsamen, aber unaufhaltsamen Vormarsch nicht stoppen. Am Himmel dröhnten vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang die deutschen Sturzkampfflugzeuge und stießen mit Sprengbomben auf die schmerzerfüllte Erde herab. Und in Hunderten von Köpfen saß quälend nur ein Gedanke: Was wird morgen sein oder in einer Woche, wenn sich der sowjetische Verteidigungsgürtel in einen Faden verwandelt hat und durchgerissen ist, zermalmt von den Eisenzähnen der deutschen Offensive?“
(Wassili Großman, Leben und Schicksal, Seite 37 f, Ullstein-Verlag, 2022)
Stalingrad, Quelle siehe weiter oben
14. September 1942
Nach den zweiwöchigen Bombenangriffen traten die deutschen Truppen zum Sturm auf die Stadt an. Am 14. September brach ein Regiment in der Innenstadt zu Wolga durch. In den schweren Straßen- und Häuserkämpfen der darauffolgenden Wochen wurden die Soldaten der 62. Armee (Rote Armee Anm. HT) überall in der Stadt bis ans Wolgaufer zurückgedrängt. Die im westlichen Steilufer eingegrabenen sowjetischen Verteidiger hielten bald nur noch mehrere Brückenköpfe.
Am 8. November 1942 hält Hitler im Löwenbräu in München eine Rede, die auch im Völkischen Beobachter abgedruckt wurde. Viktor Nekrassow, der in Stalingrad Soldat in der Roten Armee war und am westlichen Steilufer kämpfte, berichtet in seinem Roman „Stalingrad“ über diese Rede (Anmerkung H.T.)
„Vor meinen Augen tanzen die Buchstaben, ungewohnte gotische Buchstaben… „Völkischer Beobachter“ Die Rede des „Führers“ in München … „Stalingrad ist unser! Nur noch in wenigen Häusern sitzen die Russen. Mögen sie sitzen…Die gewaltige russische Arterie- die Wolga ist lahmgelegt. Und es gibt keine Macht in der Welt, die uns von diesem Platz fortbringen könnte…Ich weiß Sie haben Vertrauen zu mir, und Sie dürfen versichert sein – ich wiederhole es mit voller Verantwortung vor Gott und der Geschichte -, daß wir Stalingrad nie wieder verlassen werden. Nie wieder! Wie sehr es die Bolschewisten auch wünschen mögen…“ Ich stehe auf und gehe schwankend durch die Öffnung, die früher wahrscheinlich eine Tür war.
(Viktor Nekrassow, Stalingrad Seite 335f, Aufbau-Verlag 2021)
19. November 1942
Am 19. November 1942 startete die als „Operation Uranus“ kodierte sowjetische Großoffensive mit einem Aufgebot von über einer Million Soldaten. Die sowjetischen Panzer vereinigten sich am 24. November mit den am 20. November südlich von Stalingrad nach Westen vordringenden Panzerdivisionen. Die Deutschen und ihre Verbündeten waren eingekesselt. Der Oberbefehlshaber der 6. Armee erwog einen Ausbruch seiner eingeschlossenen Truppen. (Doch) Hitler ordnete an, die „Festung Stalingrad“ um jeden Preis zu halten. Eine Luftbrücke sollte die eingekesselten Soldaten mit Nahrung und Munition versorgen. Die Versorgung des Stalingrader Kessels aus der Luft blieb lückenhaft, so dass die anfangs über 300 000 eingeschlossen Soldaten zusehends an Nahrung- und Munitionsknappheit litten.
10. Januar 1943
Die Schlussoperation der Roten Armee zur Zerschlagung des Kessels, „Operation Ring“ begann am 10. Januar 1943. Am 26. Januar vereinigte sich die Don-Front mit der 62. Armee. Das Treffen fand auf dem Mamajew-Hügel statt, einer über Monate hinweg heftig umkämpften Höhe hinter dem Fabrikbezirk. Die Deutschen in Stalingrad waren nun in einem Nord und Südkessel gespalten. Am 30. Januar hielt Hermann Göring aus Anlass des zehnten Jahrestages der nationalsozialistischen Machtergreifung eine Radioansprache. Göring verglich die deutschen Soldaten in Stalingrad mit den Helden des Nibelungenlieds. Gleich ihnen, die in einem „Kampf ohnegleichen… in einer Halle aus Feuer und Brand…kämpften und kämpften bis zum Letzten“, würden – ja sollten die deutschen Stalingrader kämpfen, „denn ein Volk, das so kämpfen kann, muss siegen.“
Diese Radioansprache konnte auch von den Soldaten in Stalingrad empfangen werden
Heinrich Gerlach, der Soldat in Stalingrad war, hörte diese Rede in einem Keller in Stalingrad und schildert die Wirkung der Rede auf die Eingekesselten in seinem Roman „Durchbruch bei Stalingrad“.(Anmerkung H.T.)
„Und dann spricht Göring, fett und jovial, wie ein Krugwirt…Es war still geworden, so still, daß man durch die Wände ganz deutlich fernes Klopfen und Hämmern und Poltern von Steinen hörte. „Was ist denn das?“ flüsterte Eichert und sah die Umsitzenden an. „Das ist ja eine Leichenrede. Der spricht ja gar nicht mehr zu uns!“ „Wir sind ja schon tot! Werden schon ausgeschlachtet, ausgeschlachtet für die Propaganda“…Keine Hoffnung mehr! Für die Zehntausenden von Verwundeten und Kranken keine Hoffnung mehr. Und das wagte dieser Lump auszusprechen! Hauptmann Eichert war aufgesprungen. „Schluß!“ schrie er „Schluß!“ Er griff nach dem Eisenrohr, das am Herd stand, und schlug wie ein Wilder auf das Gerät ein. Die Stimme (im Radio)verstummte.“
(Heinz Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad, Seite 493ff, Verlag Kiepenheuer und Witsch, 2016)
Haus des Serganten Pawlow, Quelle siehe weiter oben
In den Morgenstunden des 31. Januar hatten sowjetische Soldaten der 64. Armee den Platz der „Gefallenen Kämpfer“ umstellt. Ein deutscher Offizier gab sich ihnen als Parlamentär zu erkennen und bot Kapitulationsverhandlungen an. Mehrere Stunden später legten die deutschen Soldaten im Südkessel die Waffen nieder, in der Traktorenfabrik im Nordkessel wurde noch bis zum 2. Februar gekämpft.
Als Hitlerdeutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, ging nicht nur darum, den Sowjetstaates zu beseitigen und die Menschen zu versklaven. Millionen Menschen sollten ermordet werden. Der Vernichtungskrieg gegen Sowjetunion und die Menschen dort wurde aber nicht nur im Osten geführt, sondern er setzte sich im Deutschen Reich fort. Millionen sowjetische Bürger*innen wurden verschleppt und mussten Zwangsarbeit leisten. Viele kamen ins Ruhrgebiet und ins Rheinland und mussten auf Zechen, in Stahlwerken und Rüstungsbetrieben schuften. Ein besonders hartes Schicksal hatten die sowjetischen Kriegsgefangenen.
Die deutsche Schwerindustrie profitiert
Kohle war für die Stahlwerke und Rüstungsbetriebe der wichtigste Energieträger. Im Ruhrgebiet gab es in den 1930ziger Jahren mehr als 120 Zechen. Um den Energiebedarf für die Stahlwerke und Rüstungsbetriebe zu sichern und den Arbeitskräftemangel, der durch die zunehmende Einberufung von Bergleuten zur Wehrmacht entstanden war, zu beseitigen, forderte die Reichsvereinigung Kohle bereits im Sommer 1941 sowjetische Kriegsgefangene verstärkt im Bergbau einzusetzen. Die Reichsvereinigung Kohle wurde im Frühjahr 1941, auf Vorschlag der Industrie, gegründet. Beteiligt waren u.a. Alfred Krupp und Friedrich Flick. Vorsitzender wurde Paul Pleiger, der aus Witten stammte. Er war ein sehr hoher Nazifunktionär und wurde nach dem Krieg wegen Verbrechen gegen den Frieden, Plünderung und Beteiligung an Zwangsarbeiterprogrammen angeklagt und zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verteilt. Er kam jedoch bereits 1951 frei.
Mit ihrer Forderung sowjetische Kriegsgefangene auf den Zechen einzusetzen, hatte die Reichsvereinigung Kohle im Sommer 1942 Erfolg. Zur schnellen Zuweisung der Gefangenen funktionierte die Wehrmacht im Oktober 1942 das Stalag VI A (Mannschafts-stammlager) im sauerländischen Hemer zu einem speziellen „Bergbaulager“ um. Bereits im Herbst 1942 wurden sowjetische Kriegsgefangene in großer Zahl aus anderen Stalags in das Stalag VI A gebracht und von dort kamen sie sofort in die Arbeitskommandos, die sich ganz in der Nähe der Zechen befanden. Auch in Dortmund, u.a. auf Zeche Kaiserstuhl, die damals Hoesch gehörte, oder auf den Zechen der Gelsenkirchener Bergbau-AG, wurden sowjetische Kriegsgefangene in großer Zahl eingesetzt. Die Gelsenkirchener Bergbau-AG (GBAG) wurde in den 1930er Jahren als Betriebsgesellschaft für die Zechen der Vereinigten Stahlwerk AG gegründet. Erster Vorsitzender des Aufsichtsrates war Albert Vögler, Vorstandsvorsitzender war Gustav Knepper, der bekennender Nazi war und für seinen Umgang mit den Zwangsarbeitern das Kriegsverdienstkreuz erhielt. 1942 wurde Otto Springorum sein Nachfolger. Ehrenvorsitzender war der ehemalige Chef der GBAG Emil Kirdorf. In Dortmund gehörten der GBAG sechs vom elf Zechen: Westhausen, Hansa, Minister Stein, Adolf von Hansemann, Zollern/Germania und Fürst Hardenberg.
Sklavenarbeit im Ruhrbergbau
Im Frühjahr 1943 dürften auf den 11 Dortmunder Zechen jeweils bis zu 500 sowjetische Kriegsgefangene in den Arbeitskommandos, in umzäunten und bewachten Lagern, gewesen sein.
Ohne ausreichende Ernährung, ohne geeignet Kleidung, ohne eine entsprechende Unterkunft und die notwendige Gesundheitsversorgung mussten die Gefangenen auf den Zechen schuften. Sie waren ständigen Demütigungen und Bestrafung ausgesetzt. Bombenangriffen waren sie ausgeliefert, da es ihnen nicht erlaubt war Schutzräume aufzusuchen. Bereits nach kurzer Zeit waren die Gefangenen aufgrund der schweren Arbeit und katastrophalen Lebensbedingungen völlig entkräftet und krank. Sie wurden in das Lazarett des Stalag VI D an der Westfalenhalle in Dortmund gebracht, wo viele starben und auf dem Ausländerfriedhof anonym begraben wurden.
Im Sommer 1944 schufteten rd. 94.000 sowjetische Kriegsgefangene im Ruhrbergbau. Die Gelsenkirchener Bergbau-AG und alle anderen Eigner der Zechen haben von der Sklavenarbeit sowjetischer Kriegsgefangener erheblich profitiert. Ebenso profitiert hat die Wehrmacht, die für jeden Gefangenen, der in der Industrie oder in die Landwirtschaft schuften musste, von den Unternehmen Geld erhielt. Über die Wehrmacht profitierte der faschistische Staat von den Gefangenen.
Die Opfer der Zwangsarbeit wurden schnell vergessen
In der Nachkriegszeit wurden die Menschen, die Opfer der Zwangsarbeit wurden, schnell vergessen. Nach ihnen wurde nicht geforscht, ihre Gräber wurden eingeebnet, ihre Namen wurden nicht genannt und blieben vielfach unbekannt. Das setzt sich bis heute fort, auch in Dortmund. Auf dem Internationalen Friedhof wird das Ausmaß des Sterbens und die Anzahl der sowjetischen Kriegsopfer bis heute nicht deutlich und die verstorbenen sowjetischen Bürger*innen haben auch 77 Jahre nach dem Ende des Krieges in der Öffentlichkeit keinen Namen. Die lange geplante Errichtung von Namensstelen für die sowjetischen Kriegsopfer ist bis heute nicht erfolgt. Inzwischen wurde das Projekt, nach Aussagen der Stadt Dortmund, wegen des Kriegs in der Ukraine zurückgestellt.