Im April 2023 war Anatoli Artemenko in der Gedenkstätte Stalag 326 zu Gast. In einem bewegenden Vortrag schilderte er das Leben seines Großvater Iwan Semjenowitsch Artemenko, der im Stalag 326 als sowjetischer Kriegsgefangener inhaftiert war.
Iwan Semjenowitsch Artemenko wurde am 2. Februar 1904 im Dorf Ljubjanka im Gebiet Kiew, in der Ukraine, geboren. Er hatte 3 Brüder. Seine Familie besaß damals eine größere Landwirtschaft. Der landwirtschaftliche Betrieb wurde in den 1920ziger Jahren kollektiviert. Iwan arbeitet danach auf der Kolchose. Er erwarb Kenntnisse in der Landwirtschaft und darüber hinaus entwickelte er in verschiedenen Gewerken handwerkliche Fähigkeiten, zum Beispiel bei der Herstellung von Keramiken und als Zimmermann. Mit seiner Ehefrau Maria hatte er 3 Söhne und ein Tochter.
Quelle: Gedenkstätte Stalag 326
Soldat in der roten Armee
Im Sommer 1941, nachdem Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfallen hatte, wurde Iwan Artemenko zum Militärdienst in die Rote Armee einberufen und bei der Verteidigung Kiews eingesetzt.
Die Schlacht um Kiew begann Mitte August 1941. Kiew wurde eingekesselt. Ende September war die Rote Armee geschlagen. Die Wehrmacht besetzte Kiew und die große Teile der Ukraine. Hunderttausende Rotarmisten gerieten in Kriegsgefangenschaft. Lange Fußmärsche, keine Verpflegung, campieren auf freien Feld, Hunger und Durst, Krankheiten und Seuchen führten dazu, dass mehr als 130000 kriegsgefangenen Rotarmisten der Kesselschlacht um Kiew in den folgenden Monaten umkamen. Verwundete hatten kaum eine Überlebenschance.
Untergetaucht in der besetzten Ukraine
Auch Iwan Artemenko wurde verwundet. Er erlitt eine Verletzung am Bein. Zu seinem Glück geriet er nicht in Kriegsgefangenschaft. Er hielt sich versteckt und wurde von einer Krankenschwester gesundgepflegt. Für ihn war es lebensgefährlich in von der Wehrmacht besetzten Gebieten unterzutauchen. Und ebenso war es sehr gefährlich für die Menschen, die ihn versteckt hielten und gesund pflegten, versprengte Rotarmisten zu verbergen und zu unterstützen.
Nach seiner Gesundung kehrte er im Frühjahr 1942 in sein Dorf zurück. Auch das Kiewer Gebiet, in dem sein Dorf lag, war von Deutschland besetzt. Er musste sich nach seiner Rückkehr weiterhin versteckt halten. Das war möglich, weil sein Cousin Bürgermeister des Dorfes war. Im Herbst 1943 wurde das Gebiet Kiew von der Roten Armee befreit.
Wieder in der Roten Armee
Zwar war nun die Zeit der Heimlichkeit und des Versteckens vorüber, aber er musste erneut Soldat werden. Am 22. Juni 1944 begann die Offensive der Roten Armee auf allen Fronten. An der Ukrainischen Front, wo Iwan Artemenko Soldat war, begann am 13. Juli die militärische Operation zur Rückeroberung Lembergs.
Er nahm an dieser Offensive teil und erlitt eine Verletzung an der Schulter. An den Kämpfen war auch die SS beteiligt, die verwundete Rotarmisten bei der Gefangennahme sofort tötete. Iwan entging nur knapper mit Not seiner Ermordung durch die SS, indem er sich bei dem Erschießungskommando totstellte. Bei seiner Einheit nahm man jedoch an, er sei tot und übermittelte seiner Ehefrau die Nachricht, dass er am 25. Juli gefallen sei.
In Kriegsgefangenschaft geraten
Am 30. Juli geriet er bei Sambor in deutsche Kriegsgefangenschaft. Zunächst brachte man ihn in das Stalag 367 Wartheland, einem Zweiglager des Stalag 367 Tschensdochau. Dort wurde er als verwundet registriert. Auf seiner Personalkarte I ist der Vermerk „vulnus sclop et fractura humerid“, das heißt er hatte eine Schusswunde und eine Fraktur der Schulter erlitten. Wegen der herannahenden Front wurde das Stalag 367 im August 1944 aufgegeben.
Personalkarte 1 von Iwan Semjenowitsch Artemenko, Quelle Gedenkstätte Stalag 326
Kriegsgefangener im Stalag 326
Am 18. August kam Iwan im Stalag 326 Stuckenbrock an. Man brachte ihn zunächst ins Lazarett, wo er von sowjetischen Ärzten, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, behandelt wurde. Nach Berichten von Zeitzeugen aus dem Lagerlazarett des Stalag 326 hatten die sowjetischen Ärzte das Ziel mit allen Mitteln das Leben möglichst vieler Kriegsgefangener zu erhalten. Die Ärzte taten alles um Erkrankte und Verletzte solange wie mögliche im Lazarett zu behalten
Doch im Oktober 1944 wurde Iwan aus dem Lazarett entlassen und kam ins Lager. Die Lebensbedingungen waren hart, die Verpflegung war völlig unzureichend: morgens ein Stück Brot und Marmelade, mittags eine Wassersuppe, der sogenannte Balanda. Viele Gefangene versuchten durch die Herstellung von Kleidung oder kunsthandwerklichen Gegenständen, die sie gegen Essen eintauschen konnten, ihre Verpflegung aufzubessern. Auch Iwan versuchte das und nähte Hüte, die er durch den Stacheldrahtzaun gegen Brot eintauschte. Dabei wurde er von einer deutschen Bäuerin bemerkt. Sie erreichte, dass er auf ihrem Hof arbeiten konnte. Für ihn war das die Rettung, wie er später seiner Familie berichtete. Im Winter, wenn die Bauern weniger zu tun hatten, besserten sie ihr Einkommen durch die Herstellung von Blechspielzeug in Heimarbeit auf. Er half bei der Heimarbeit und in der Landwirtschaft. So haben ihm seine landwirtschaftlichen Kenntnisse und sein handwerkliches Geschick das Überleben gesichert.
Am 2. April 1945 wurde das Stalag 326 von US-Truppen besetzt. Amerikanische Offiziere führten mit den Gefangenen Interviews und berichteten ihnen, dass die aus Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Rotarmisten mit Verfolgung rechnen müssten. Sie boten die Emigration in die USA an. Doch Iwan wollte in seine Heimat und zu seiner Familie zurückkehren. Seine Familie wurde im April 1945 von der Nachricht über sein Überleben überrascht. Sie hatten in für Tod gehalten und schon eine Trauerfeier für ihn geplant.
Rückkehr in die Heimat
Nach seiner Entlassung aus dem Stalag 326 wurde er nach Kiew gebracht. Von dort war es nicht weit bis zu seinem Dorf Ljubjanka. Doch eine Rückkehr zu seiner Familie und in sein Dorf bedeutet das nicht. Er kam, wie die meisten Rotarmisten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, in ein Filtrationslager, wo er befragt und überprüft wurde. Einmal erhielt er die Erlaubnis seine Familie zu besuchen. Dann brachte man ihn in ein Arbeitslager in den Donbass. Wieder half ihm sein handwerkliches Geschick. Er musste nicht auf den Zechen oder in den Stahlwerken des Donbass arbeiten. Er arbeitet als Keraminkmeister in einer Töpferei , wo Haushaltsgeschirr hergestellt wurde. Erst nach dem Tod Stalins erhielt er die Erlaubnis zu seiner Familie zurückzukehren. In all den langen Jahren im Lager war nie Anklage gegen ihn erhoben worden.
Nach seiner Rückkehr arbeitete er in seinem Dorft Ljubjanka als einfacher Arbeiter. Er betreute die Pferde im Kolchos. Mit seinem Sohn, der in Tchernobyl lebte, baute er ein Haus.
Anatoli Artemenko im Gespräch mit Dmitriy Kostovarov
Erinnerungen an den Großvater
Seine Enkelkinder besuchten ihn in den Sommerferien. Sein Enkel Anatoli erinnert sich an unbeschwerte Ferien im Dorf bei seinen Großeltern, wenn er mit den anderen Kindern die Wälder und Wiesen durchstreifte, im nahegelegenen Bach fischte oder mit dem Großvater die Pferde versorgte. Der Großvater betrieb im Nebenerwerb eine Töpferwerkstatt, wo er Haushaltsgeschirr, Teller, Tassen, Schüsseln und Krüge, herstellte. Er lehrte auch seine Enkel das Töpfern und in den Ferien begleiteten ihn seine Enkel oft, wenn der Großvater sein Geschirr auf dem Markt in Tschornobyl verkaufte.
So erinnert sich Anatoli Artemenko an den Großvater.
Von der Zeit seiner Gefangenschaft im Stalag sprach der Großvater selten, doch wenn er über seine Gefangenschaft sprach, erzählte er von der Zeit, in der auf dem Hof der deutschen Familie lebte.
Seine Enkelkinder besuchten ihn in den Sommerferien. Sein Enkel Anatoli erinnert sich an unbeschwerte Ferien im Dorf bei seinen Großeltern, wenn er mit den anderen Kindern die Wälder und Wiesen durchstreifte, im nahegelegenen Bach fischte oder mit dem Großvater die Pferde versorgte. Der Großvater betrieb im Nebenerwerb eine Töpferwerkstatt, wo er Haushaltsgeschirr, Teller, Tassen, Schüsseln und Krüge, herstellte. Er lehrte auch seine Enkel das Töpfern und in den Ferien begleiteten ihn seine Enkel oft, wenn der Großvater sein Geschirr auf dem Markt in Tschornobyl verkaufte.
So erinnert sich Antatoli Artemenko an den Großvater.
Von der Zeit seiner Gefangenschaft im Stalag sprach der Großvater selten, doch wenn er über seine Gefangenschaft sprach, erzählte er immer von der Zeit, in der auf dem Hof der deutschen Familie lebte.
Späte Anerkennung
Eine Anerkennung für seine Zeit in der Roten Armee und die Teilnahme am Krieg erhielt er erst am Ende seines Lebens, Mitte der 1960ziger Jahre. Man überreichte ihm eine Medaille als Auszeichnung. Eine Entschädigung oder Entschuldigung von deutscher Seite erhielt Iwan Artemenko, er wie vielen tausend andere sowjetische Kriegsgefangenen, nie. Erst 2015 sprach der Deutsche Bundestag den überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen eine symbolische Entschädigung zu, da lebten nur noch 3000 von ihnen.