Stalingrad Protokoll*

Eine Textkollage

*Der Text ist, soweit nicht anders angegeben, dem Buch von Jochen Hellbeck „Die Stalingrad Protokolle – Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht“, Seite 11-18, Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main, Wien, Zürich, 2012, entnommen.

Die Schlacht um Stalingrad markiert einen Wendepunkt im 2. Weltkrieg. Sie endete mit der Einkesselung und Vernichtung einer gesamten deutschen Feldarmee. Es war die bislang größte Niederlage in der deutschen Militärgeschichte.

28. Juni 1942

Nach den zum Stehen gekommenen deutschen Angriffen auf Leningrad, Moskau und Sewastopol im Herbst 1941 und den sowjetischen Gegenoffensiven im Winter plante Hitler für das zweite russische Kriegsjahr eine umfassende Sommeroffensive unter dem Decknamen „Operation Blau“. Sie begann am 28. Juni 1942 mit einem Großangriff an der russisch-ukrainischen Südfront und sollte Deutschland in den Besitz wichtiger Rohstoffquellen bringen – der Kohlegebiete vom Donbass und der Ölfelder von Maikop, Grosny und Baku. Die Panzer- und motorisierten Infanterieverbände der Deutschen kamen rasch voran. Die Speerspitze in der Heeresgruppe B bildete die 6. Armee von Generaloberst Paulus. Unterstützt von rumänischen Verbänden, erhielten sie den Auftrag, die Industriestadt Stalingrad an der Wolga zu erobern. Zu diesem Zeitpunkt mochte auch sowjetischen Beobachtern scheinen, dass der Krieg bereits entschieden war. Wassili Großman, ein sowjetischer Schriftsteller und Journalist, der als Kriegsberichterstatter für die Zeitung „Roter Stern“ u.a. von der Schlacht um Stalingrad berichtete, notierte im August 1942 in sein Tagebuch: „Dieser Krieg im Süden, am Unterlauf der Wolga, schafft ein Gefühl, als wäre ein Messer tief in den Leib gerammt worden.“

Hitler stilisierte den deutschen Angriff frühzeitig zu einem Entscheidungskampf zwischen den verfeindeten weltanschaulichen Systemen. Am 20 August 1942 notierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: „Es soll kein Stein auf dem anderen bleiben.“ Am 23. August erreichten erste deutsche Panzer 70 Kilometer entfernt die Wolga nördlich von Stalingrad und riegelten den Zugang zur Stadt von Norden her ab.

Stalingrad erstreckte sich wie ein Band 40 Kilometer längs des Westufers der Wolga. Bei Kriegsausbruch zählte Stalingrad knapp 500.000 Einwohner.

Als Industriezentrum und Waffenschmiede spielte es eine wichtige kriegswirtschaftliche Rolle. Im Sommer 1942 war die Stadt zudem von Flüchtlingen überlaufen.

Stalingrad kurz vor dem Angriff, Quelle „Stalingrad Lehren der Geschichte, Hrg. W.I. Tschuikow, Röderberg Verlag, Frankfurt 1979

23. August 1942

„Der Tag begann wie allen anderen. Die Hausmeister trieben Staubwolken von der Platzmitte zum Gehweg. Alte Frauen und kleine Mädchen gingen vorbei, um sich für Brot anzustellen…Tausende Menschen, die am Flusshafen auf die Überfahrt warteten, erwachten langsam und unwillig, gähnten, kratzten sich, kauten trockenes Brot… Die Sonne stieg höher. Und die ganze große, unruhige Stadt, Heerlager und Ort zivilen Lebens in einem, begann zu atmen, begann zu arbeiten… Auf einer Bank neben dem Paradeeingang eines dreistöckigen Hauses hatten es sich zwei hübsche junge Frauen bequem gemacht. Die eine, die Frau des Hausverwalters, stopfte ein Kinderkleidchen, die andere strickte einen Strumpf… Die letzte Stunde Stalingrads, des Stalingrad, wie es vor dem Krieg war, verlief wie alle Stunden und Tage zuvor… Die ersten Flugzeuge tauchten gegen 4 Uhr nachmittags auf. Das Dröhnen der Motoren wurde stärker, zäher, dichter… Alle Geräusche der Stadt duckten sich, verebbten und allein das Dröhnen, das in seiner behäbigen Monotonie die Riesenkraft der Motoren wiedergab, wuchs an verdichtete, verfinsterte sich. Zeitweise konnten das gewaltige Flakfeuer und die Angriffe der Jäger mit dem roten Stern die Formation der deutschen  Luftwaffe stören… Als sie sich über der Stadt getroffen hatten, die Flugzeuge aus Osten und Westen aus Norden und Süden, gingen sie in den Sinkflug über… Und ein drittes neues Geräusch ertönte über der Stadt – das bohrende Pfeifen Dutzender und Hunderter von Sprengbomben, die sich von den Tragflächen lösten, das Winseln Tausender und Zehntausender Brandbomben, die aus den aufklaffenden Schüttbehältern stürzten. Die Bomben erreichten die Erde und bohrten sich in die Stadt.“

(Wassili Großman, Stalingrad, Seite 699ff, Ullstein Verlag, 2022)

„Es kamen die schwersten Tage für die Verteidiger von Stalingrad. Im Getümmel der Schlacht um die Stadt, der Angriffe und Gegenangriffe, im Kampf um das „Haus der Spezialisten“, um die Mühle, um das Gebäude der Staatsbank, im Kampf um Keller, Höfe und Plätze zeigte sich eindeutig die Überlegung der deutschen Streitkräfte. Die Initiative, die Treibkraft des Krieges, ging in diesen Tagen von der deutschen Seite aus. Immer weiter schoben sie sich vor, und aller Ingrimm der sowjetischen Gegenangriffe konnte ihren langsamen, aber unaufhaltsamen Vormarsch nicht stoppen. Am Himmel dröhnten vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang die deutschen Sturzkampfflugzeuge und stießen mit Sprengbomben auf die schmerzerfüllte Erde herab. Und in Hunderten von Köpfen saß quälend nur ein Gedanke: Was wird morgen sein oder in einer Woche, wenn sich der sowjetische Verteidigungsgürtel in einen Faden verwandelt hat und durchgerissen ist, zermalmt von den Eisenzähnen der deutschen Offensive?“

(Wassili Großman, Leben und Schicksal, Seite 37 f, Ullstein-Verlag, 202
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Stalingrad, Quelle siehe weiter oben

14. September 1942

Nach den zweiwöchigen Bombenangriffen traten die deutschen Truppen zum Sturm auf die Stadt an. Am 14. September brach ein Regiment in der Innenstadt zu Wolga durch. In den schweren Straßen- und Häuserkämpfen der darauffolgenden Wochen wurden die Soldaten der 62. Armee (Rote Armee Anm. HT) überall in der Stadt bis ans Wolgaufer zurückgedrängt. Die im westlichen Steilufer eingegrabenen sowjetischen Verteidiger hielten bald nur noch mehrere Brückenköpfe.

Am 8. November 1942 hält Hitler im Löwenbräu in München eine Rede, die auch im Völkischen Beobachter abgedruckt wurde. Viktor Nekrassow, der in Stalingrad Soldat in der Roten Armee war und  am westlichen Steilufer kämpfte, berichtet  in seinem Roman „Stalingrad“ über diese Rede (Anmerkung H.T.)

„Vor meinen Augen tanzen die Buchstaben, ungewohnte gotische Buchstaben… „Völkischer Beobachter“  Die Rede des „Führers“ in München … „Stalingrad ist unser! Nur noch in wenigen Häusern sitzen die Russen. Mögen sie sitzen…Die gewaltige russische Arterie- die Wolga ist lahmgelegt. Und es gibt keine Macht in der Welt, die uns von diesem Platz fortbringen könnte…Ich weiß Sie haben Vertrauen zu mir, und Sie dürfen versichert sein – ich wiederhole es mit voller Verantwortung  vor Gott und der Geschichte -, daß wir Stalingrad nie wieder verlassen werden. Nie wieder! Wie sehr es die Bolschewisten auch wünschen mögen…“ Ich stehe auf und gehe schwankend durch die Öffnung, die früher wahrscheinlich eine Tür war.

(Viktor Nekrassow, Stalingrad Seite 335f, Aufbau-Verlag 2021)

19. November 1942

Am 19. November 1942 startete die als „Operation Uranus“ kodierte sowjetische Großoffensive mit einem Aufgebot von über einer Million Soldaten. Die sowjetischen Panzer vereinigten sich am 24. November mit den am 20. November südlich von Stalingrad nach Westen vordringenden Panzerdivisionen. Die Deutschen und ihre Verbündeten waren eingekesselt. Der Oberbefehlshaber der 6. Armee erwog einen Ausbruch seiner eingeschlossenen Truppen. (Doch) Hitler ordnete an, die „Festung  Stalingrad“ um jeden Preis zu halten. Eine Luftbrücke sollte die eingekesselten Soldaten mit Nahrung und Munition versorgen. Die Versorgung des Stalingrader Kessels aus der Luft blieb lückenhaft, so dass die anfangs über 300 000 eingeschlossen Soldaten zusehends an Nahrung- und Munitionsknappheit litten.

10. Januar 1943

Die Schlussoperation der Roten Armee zur Zerschlagung des Kessels, „Operation Ring“ begann am 10. Januar 1943. Am 26. Januar vereinigte sich die Don-Front mit der 62. Armee. Das Treffen fand auf dem Mamajew-Hügel statt, einer über Monate hinweg heftig umkämpften Höhe hinter dem Fabrikbezirk. Die Deutschen in Stalingrad waren nun in einem Nord und Südkessel gespalten. Am 30. Januar hielt Hermann Göring aus Anlass des zehnten Jahrestages der nationalsozialistischen Machtergreifung eine Radioansprache. Göring verglich die deutschen Soldaten in Stalingrad mit den Helden des Nibelungenlieds. Gleich ihnen, die in einem „Kampf ohnegleichen… in einer Halle aus Feuer und Brand…kämpften und kämpften bis zum Letzten“, würden – ja sollten die deutschen Stalingrader kämpfen, „denn ein Volk, das so kämpfen kann, muss siegen.“

Diese Radioansprache konnte  auch von den Soldaten in Stalingrad empfangen werden

Heinrich Gerlach, der Soldat in Stalingrad war, hörte diese Rede in einem Keller in Stalingrad und schildert die Wirkung der Rede auf die Eingekesselten in seinem Roman „Durchbruch bei Stalingrad“.(Anmerkung H.T.)

„Und dann spricht Göring, fett und jovial, wie ein Krugwirt…Es war still geworden, so still, daß man durch die Wände ganz deutlich fernes Klopfen und Hämmern und Poltern von Steinen hörte. „Was ist denn das?“ flüsterte Eichert und sah die Umsitzenden an.  „Das ist ja eine Leichenrede. Der spricht ja gar nicht mehr zu uns!“ „Wir sind ja schon tot! Werden schon ausgeschlachtet, ausgeschlachtet für die Propaganda“…Keine Hoffnung mehr! Für die Zehntausenden von Verwundeten und Kranken keine Hoffnung mehr. Und das wagte dieser Lump auszusprechen! Hauptmann Eichert war aufgesprungen. „Schluß!“ schrie er „Schluß!“ Er griff nach dem Eisenrohr, das am Herd stand, und schlug wie ein Wilder auf das Gerät ein. Die Stimme (im Radio)verstummte.“

(Heinz Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad, Seite 493ff, Verlag Kiepenheuer und Witsch, 2016)

In den Morgenstunden des 31. Januar hatten sowjetische Soldaten der 64. Armee den Platz der „Gefallenen Kämpfer“ umstellt. Ein deutscher Offizier gab sich ihnen als Parlamentär zu erkennen und bot Kapitulationsverhandlungen an. Mehrere Stunden später legten die deutschen Soldaten im Südkessel die Waffen nieder, in der Traktorenfabrik im Nordkessel wurde noch bis zum 2. Februar gekämpft.